Leseprobe - Ungewöhnliche Geschichten

 

Der rote Drache

 

(Chinesische Mauer – 1639 n.Chr.)
Seit Tagen waren die Soldaten des Kaisers schon in Aufruhr, weil die Nachricht umherging, der Feind würde bald zuschlagen. Thai-Pe, der verantwortliche General im Abschnitt 966-W, nahe der Gobiwüste, wurde gerufen als ein berittener Bote aus der Hauptstadt mit schlechten Nachrichten eintraf. Die erbetene Verstärkung würde ausbleiben, weil der Kaiser den größten Teil seiner Truppen in der Nähe der Hauptstadt Beijing behalten wollte. Dies war wohl wichtiger als dieser kleine Abschnitt in der Mauer, dachte Thai-Pe, grimmig. Ohne Verstärkung, nur mit seinen rund dreihundert Grenzkriegern, konnte er unmöglich den Ansturm der Mongolen, länger als ein paar Tage aufhalten. Die Mauer war hoch, sie war massiv, aber nicht unüberwindbar und die Mongolen würden in einer so großen Anzahl dagegen preschen, dass die Verteidiger bald zurück weichen müßten. Thai-Pe zerknüllte wütend das Papier mit dem kaiserlichen Siegel und starrte von seinem erhöhten Platz von der Mauer hinunter auf den heißen Wüstensand. Dieser verweichlichte und bornierte Kindskopf von einem Kaiser, dachte er. Der hatte keinen blassen Schimmer, wie es Vorort aussah. Wie sollten sie allein, so eine große Armee nur aufhalten? Xang Thai-Pe zog sich in seine kleines privates Gemach zurück und fing an, einen Brief an seine Frau und Tochter zu schreiben. Nur mit Mühe glitt die Feder über das Pergament und hin und wieder stockte sein Schreibfluss, um die richtigen Worte zu finden. Der Brief sollte nicht zu pessimistisch oder endgültig erscheinen, aber eine realistische Wahrheit beinhalten. Sie hatten schon einige Male die wilden Horden aus den Steppen zurück geschlagen, aber diesmal würde die heran stürmende Armee unaufhaltsam sein. Besonders ohne weitere Truppenunterstützung. Deshalb rechnete Thai-Pe auch nicht mit einem Wiedersehen der Lieben im Kaiserreich. Höchstens in einem nächsten Leben vielleicht, so seine Vorstellung.
Trotzdem versuchte er seine Liebsten nicht zu sehr zu beunruhigen und deshalb schrieb er auch ein paar Zeilen von der schönen Natur und der Umgebung, die einem die langen und einsamen Nächte auf der Mauer erträglicher machten. Thai-Pe war einer der Verantwortlichen, der die in einem Kilometer Abstand voneinander stehenden Wachtürme, mit neuen Leuchtfeuern ausgerüstet hatte. So war gewährleistet, dass auch bei schlechtem Wetter und in der Dunkelheit, die Rauchsignale besser gesichtet wurden und Alarm geschlagen werden konnte. Zusätzlich waren die jeweiligen Eingänge der Türme extra gesichert, so dass der Feind viel Mühe haben würde, hinein zu gelangen um die Feuer zu löschen. Viele Male hatte er die sturen Beamten und zuletzt den Kaiser selbst gebeten, die endlosen Kilometer der Mauer mit mehr Männern zu besetzen. Doch seine Bitten und Klagen blieben ungehört. Das Kaiserreich hatte an vielen Fronten zu kämpfen und der Weg der Mauer führte durch ein zu großes Gebiet, um die gesamte chinesische Armee darin zu verteilen und so ganz China in einem gewissen Sinne zu stärken aber auch woanders dann zu schwächen. Deshalb zog Thai-Pe nun alle verbliebenen Kräfte zusammen, links und rechts, jeweils fünf Kilometer, die Mauer hinauf und herunter und holte jeden verfügbaren Krieger zu sich. Das vor ihm liegende, flache Gelände, bot die besten Voraussetzungen für eine so große Armee, in breiter Front über die Verteidiger herzufallen. Mittlerweile kannte er die Vorgehensweise der wilden Krieger aus den Steppen. Nur ungern teilten sie ihre Kräfte auf um die Kampfkraft und Wucht des Angriffes nicht zu mildern. Deshalb war seine auf 425 Soldaten angewachsene Einheit, nur kurzfristig ein Hindernis für die Angreifer, die, nachdem sie die Mauer überwunden hätten, direkt ins kaiserliche Reich strömen würden. Die Dynastie war gefährdet. Einzig allein die hohen Wände der Mauer, unterstützten Thai-Pe verzweifelten Verteidigungsversuch. Des Weiteren wollte sich der General, die kaum vorhandene Rüstung des Feindes zunutze machen. Es war nur eine leichte Reiterei mit primitiven Waffen. Allein ihre Anzahl und Entschlossenheit führte meistens bei ihnen zum Sieg.
Die Bogenschützen wurden von dem General an den optimalsten Stellen postiert, neue kaum getestete Feuerwaffen und Kanonen in Stellung gebracht und jeder verfügbare Mann wurde mit einer guten Panzerung versehen, soweit sie vorhanden waren. So würden wenigstens einige der leichten Pfeile des Gegners, an den Brustplatten zersplittern. Dazu schwor Thai-Pe seine Soldaten nochmals auf den Treueid und das Versprechen ein, für den Kaiser und das Reich bis zum Tode zu kämpfen. Viel mehr konnte er nun nicht mehr tun. Ab da hieß es, abwarten. Er hatte zwar Späher ausgesandt, die ihm gemeldet hatten, dass der Feind noch einen halben Tagesritt entfernt sei, sie hatten ihm aber auch berichtet, das sich der Horizont von den Massen der Angreifer tief schwarz gefärbt hatte. Somit sank sofort die kleine Hoffnung, es länger als einen Tag gegen diese Übermacht aushalten zu können. Er konzentrierte sich wieder auf das hektische Treiben um sich herum. Thai-Pe hatte aus anderen Schlachten gelernt und für die richtige Distanzmessung, kleine Pfähle mit roten Bändern in Richtung des vermuteten Angriffs aufstellen lassen. So konnten seine Männer sehen, wann die Mongolen in Reichweite waren und die Pfeile und Kugeln ihr Ziel erreichten. Das half beim Treffen und sparte Ressourcen. Zu dem konnte die jeweilige Windrichtung eingerechnet werden. Der General lies sich seine schwere und gut gepanzerte Rüstung anlegen und setzte sich dann selbst seinen schwarzen Helm, geschmückt mit Federn auf den Kopf. Sein vor Jahren erbeutetes Damaszenerschwert war sein ganzer Stolz. Er hielt es vor sich und bestaunte jedesmal die schöne Maserung, der vielfach gehärteten Klinge. Es war noch immer so scharf wie am Anfang und würde einige der Feinde ohne Mühe zerteilen. Er steckte es wieder in die Scheide und nahm dafür sein langes Fernrohr zur Hand. Noch war der Horizont hell und weiß vom Sand der nahen Wüste, aber bald schon würde die Dunkelheit über das Land herein brechen. Immer noch warten, vielleicht noch Stunden, dachte er. Im Gegensatz zu seinen Soldaten, war er die Ruhe selbst und ging noch einmal seinen Abschnitt rauf und runter. Die Vorbereitungen waren soweit getan, jeder kannte seinen Platz und wusste was er zu tun hatte.

Fahnenflucht wurde mit dem Tod bestraft aber man konnte trotzdem nie wissen, wie viele im Angesicht eines so mächtigen Heeres, diese nicht doch vergaßen und davon rannten. Deshalb versuchte er seine Stärke und Zuversicht den Männern zu vermitteln und sprach allen Mut zu. Sie waren das letzte Bollwerk, die letzte Bastion, das letzte Hindernis für den Feind, bevor er ungehindert in China einfallen konnte, um wer wusste schon was für Greultaten zu begehen. Ihr naiver, junger Kaiser und China zählten auf die Männer an der Mauer und nur sie konnten sie noch beschützen. Trotz alledem schauten viele der noch jungen Soldaten ängstlich auf, wenn er vorbei ging. Er war noch nicht lange wieder auf seinem Posten, als ein Späher angeritten kam und den Feind in kürze ankündigte. Wieder langte Thai-Pe nach dem Fernrohr und diesmal konnte er den dunklen Teppich erkennen, der unaufhaltsam auf sie zu kroch. Wie eine schwarze Masse von hungrigen Ameisen, kamen sie immer näher. Der General schaute hinauf zur Sonne und schätzte, dass am Abend die Entscheidung gefallen wäre, wie gut sie sich verteidigt und gekämpft hätten. Die Feuer der Signaltürme brannten schon seit Tagen aber dieses hatte nun keinen Sinn mehr, da der Kaiser sowieso keine Verstärkung schicken wollte. Auch die vier Männer im nahen Turm sollten sich nun mehr auf die Verteidigung als auf das heizen der Feuerkelche konzentrieren. Jeder Mann wurde gebraucht und würde doch nicht reichen um sie wieder zurück zu treiben, das wusste der General. Trotzdem würden sie diesen Feind nicht kampflos herein bitten und zusehen, wie er Frauen und Kinder schändete und die Städte verwüstete. Dieses angreifende Heer würde aber diesmal nicht ohne große Opfer zu lassen, auf ihrem Weg weiter kommen. Thai-Pe wollte so viele wie möglich töten, bevor sie über ihn hinweg strömen würden. Plötzlich erzitterte der Boden unter seinen Füßen. Erst leicht, dann immer stärker und er wusste, dass die ungestümen Hufe der Mongolen nahe waren. Er gab das Zeichen sich bereit zu machen und ließ den Trompeter ins Horn blasen. Die bunten Fahnen des Reiches, flatterten im Westwind und Pfeile wurden an die Sehnen der Bögen gelegt. Das Donnern der fliegenden Hufe wurde immer lauter und Thai-Pe’s Männer wurden unruhig.
Einem Bogenschütze direkt neben ihm, zitterten so die Arme, das der Bogen mit dem Pfeil, den er gespannt hielt, klapperte. Das konnte der General sogar in dem aufbrausenden Lärm hören. Er drehte sich zu dem Schützen zur Seite und versuchte ihn zu beruhigen.
„Ganz ruhig, Soldat. Versuche Dich zu konzentrieren und ich möchte, dass jeder Schuß von Dir einen Feind trifft. Versprichst Du mir das?“
Der junge Soldat nickte nur, schaute aber weiterhin stur geradeaus.
„Entspanne Dich. Erst die Sehne straffen, wenn sie an der zweiten Markierung sind, bei der dritten kannst Du dann schießen.“
Der kaiserliche Bogenschütze löste den gespannten Bogen, dann sagte er:
„Ja, mein General. Ich danke Euch!“
Thai-Pe antwortete nicht darauf, sondern blickte zu der Stelle, wo nun die ersten Reiter aus einer Senke heraus kamen und man fast schon, ihre verkniffenen Gesichter erkennen konnte. Er rief seinen Leuten zu.
„Wartet ab, bis sie an den Markierungen sind. Noch nicht schießen.
Wartet ab.“
Dann war es soweit und einer der chinesischen Soldaten löste den ersten Schuß aus. Die anderen folgten nach und so flog ein Pfeilregen und ein Kugelhagel auf die angreifenden Mongolen, deren erste Angriffsreihe nieder gemäht wurde. Die Kanonen hatten ihre erste Bewährungsprobe bestanden und grauer Rauch wirbelte durch die Luft. Die Chinesen jubelten und luden gleichzeitig ihre Feuerwaffen nach. Doch die Mongolenmeute quoll weiterhin, fast ohne Unterlaß auf die Mauer zu. Die Pfeile wurden wieder und wieder abgeschossen, aber der Strom der Angreifer schien nicht abzunehmen, obwohl die Kanonen große Lücken in die Reihen der Feinde rissen. Thai-Pe schrie seine Befehle nach allen Seiten und während er dabei sein Schwert durch die Luft wirbelte, traf ihn ein Pfeil des Gegners ...