Leseprobe - Science Fiction Geschichten

 

Die vergessene Stadt

 

Das unsichtbare Gefährt schoss durch das dunkle Wasser des Pazifiks und schien die Fischschwärme nicht zu stören, die bereitwillig ein wenig Platz machten, als wenn sie etwas spürten, um sich danach wieder zu sammeln.
Die Sicht war null aber dennoch fuhr das geräuschlose Etwas sicher durch die Felswände und Schluchten, die ab und zu von einzelnen phosphorierenden Fischen beleuchtet wurden.
In sechs Meilen Entfernung tauchte ein U-Boot, die USS. Cypron in 200 Meter Tiefe und registrierte schwach ein unidentifizierbares Objekt auf sich zu kommen, obwohl keine direkte Gefahr bestand, das Echolot gab dem Gegenstand eine Tiefe von ca. 800 – 900 Meter. Das war sowieso kein Bereich, den das stählerne Schiff jemals erreichen könnte. Die Cypron konnte maximal 300 Meter tief tauchen, unter extremen Gefechtsbedingungen. Der Mann am Sichtschirm schätzte die Geschwindigkeit des Objekts auf ca. 120 Knoten also fast fünfmal so schnell wie die Cypron mit ihren maximal 25 Knoten. Es kam rasch näher und der Captain des U-Bootes, obwohl ein erfahrener Mann, kaute schneller als gewöhnlich auf seinem Kaugummi herum, immer den Punkt auf dem Echolotbildschirm im Auge.
Es war nicht das erste Mal, dass sie eine so genannte unidentifizierbare Begegnung hatten, es mussten bis jetzt so um die vier gewesen sein, aber  die Letzte war schon über ein Jahr her und niemand konnte dafür jeweils eine plausible Erklärung finden.
Bevor der Mann am Echolot auch nur begreifen konnte, das das Objekt plötzlich seine Geschwindigkeit und auch die Tiefe gerändert hatte, war das immer noch nicht zu identifizierbare Gefährt schon an ihnen haarscharf vorbei geschossen. Alle an Bord waren sich einig, dass es unmöglich war, selbst mit dem modernsten Boot so eine Geschwindigkeit zu erreichen. Kurz darauf war es von dem Schirm verschwunden und war nicht mehr zu orten.
Captain Forrester-Hancock befahl die ganze Umgebung akribisch weiter zu beobachten, und gab dann eine Meldung an das oberste Kommando im Hauptquartier raus. Im ersten Moment, wusste er nicht, wie er den Vorfall schildern sollte, ohne sich wie ein Phantast anzuhören.
Er musste es aber tun und so verfasste er den kurzen Bericht, er blieb sachlich dabei ohne eine eigene Meinung zu vertreten. Die Antwort aus dem Hauptquartier war ebenso kurz wie klar.
(Die Cypron sollte, bis sie wieder in drei Wochen in den nächsten Hafen einlief, versuchen, das Phänomen zu deuten und notfalls zu versenken – natürlich nur falls es feindlich wäre, also die Besatzung und die Cypron gefährdet seien).
Vorsichtshalber ließ der Captain außer dem ständig arbeitenden Bugsonar noch das Schleppsonar ausfahren und ging auf Schleichfahrt. 
Die beiden Insassen, Itheka und Perikles hatten mittlerweile 18 Stunden ihrer 24 Stundenschicht hinter sich und wechselten sich bei den monotonen Fahrten mit dösen oder lesen der heiligen Schriften ab. In 1.000 Meter Tiefe war ihnen die Umwelt und die Vielfalt der Flora und Fauna mit den Jahren bestens bekannt und es gab nie Überraschungen oder Unvorhergesehenes. Perikles war zwei Jahre jünger als Itheka und ab und zu ging es mit ihm durch. Ohne Vorwahrnung verließ er ihre übliche Tiefe und steuerte das ovale Schiff immer höher hinauf und auch die Geschwindigkeit nahm zu. Bevor Itheka Protest erheben konnte waren sie schon aus den sicheren Tiefen heraus und hatten eine überraschende Begegnung. Weit über ihr angeordnetes Ziel hinaus geschossen, drückte Itheka auf die Notbremse und zog den Geschwindigkeitshebel zurück.
„Warum machst Du andauernd so was? Wir könnten verdammt viel Ärger kriegen und ich habe keine Lust wieder einmal wegen Dir vor dem Rat zu stehen und um Vergebung zu winseln. Ich bin heilfroh, daß sie noch immer nicht die Sache von vor einem Monat im Block 32 heraus gekriegt haben. Die würden mich in den Hades schicken und ich hätte verdammt lange daran zu kauen, das ist sicher! Beinah wären wir mit dem Boot der anderen zusammen gestoßen!“

„Reg Dich nicht immer so auf, Du musst ruhiger werden, in Deinem Alter kann man schnell überreagieren! War doch keine große Sache. Ich habe alles im Griff gehabt!“
„Alles im Griff! Wie die Sache vor einiger Zeit, als Du unbedingt an die Oberfläche wolltest und wir den zwei anderen begegnet sind. Unsere Tarnung war ausgefallen und im letzten Moment konnten wir noch ungesehen abtauchen, niemand darf von uns erfahren, niemand. Sie sind für uns gefährlich und wir müssen ihnen aus dem Weg gehen!“
„Glaubst Du an die alten Geschichten, von unseren Vorfahren. Das die anderen an der Oberfläche uns immer suchen und töten wollen? Die hätten doch keine Chance gegen uns. Die würden wir doch vernichten.
Es sind jetzt schon fast 2.000 Jahre vergangen und wir wurden immer noch nicht von den Altvorderen abgeholt. Wo sind sie. Warum lassen sie uns solange warten?“
„Wie kannst Du nur an ihnen zweifeln? Es wird der Tag kommen und wenn es noch 2.000 Jahre dauern sollte, sie werden kommen, bestimmt!“
„Woher willst Du das wissen? Haben sie Dir das gesagt?“
„Du wirst unverschämt und ich sollte Dich dem Rat melden!“
„Kannst Du tun, aber sie werden sich bestimmt gerne die Geschichte vom Block 32 anhören, meinst Du nicht?“
Itheka schaute einen Moment düster drein, dann entspannte er sich wieder.
„Wir sollten langsam zurück fahren und aufpassen, nicht noch einmal in die Nähe des komischen Bootes der anderen zu kommen.
Sonst müssten wir sie versenken, und wir sollen doch nicht mehr auf uns aufmerksam machen als nötig.“
Das Gefährt sackte wieder auf die alte Tiefe und tauchte in die schwärze ein. Die restliche Zeit sprachen die beiden nicht mehr miteinander. Itheka wollte versuchen, zukünftig mit einem anderen Partner als Perikles auf Patrouille zu fahren. Er wurde zu neugierig und er redete zuviel.


Eine halbe Stunde vor ihrem Schichtende fuhren sie im Schrittempo in den Unterwasserhangar ein. Beide hatten die Lust verloren und die letzten paar Meilen nahmen sie immer mehr die Geschwindigkeit zurück um nicht noch früher anzukommen und sich irgend eine Ausrede einfallen lassen zu müssen. Doch Althar erwartete sie schon und schaute düster.
Der Oberpritus, der für die Patrouillen, Einteilung der Besatzungen
und der Boote zuständig war, konnte ziemlich ungemütlich werden, wenn seine Zeitpläne und Einteilungen nicht korrekt befolgt wurden und dieses Boot, welches gerade einlief, war eindeutig zu früh dran. Itheka und Perikles ließen die Standpauke, die Althar ihnen verpasste, über sich ergehen und waren mit ihren Gedanken schon ganz woanders. Beide meldeten sich anschließend in der Zentrale um den Fahrbericht abzugeben, erwähnten aber nicht ihren beinah Zusammenstoß mit dem Boot der anderen. Dann trennten sie sich und gingen in Richtung ihrer Erholungszellen. Itheka  durchschritt gerade die gläsernen Tunnelwände kurz vor seinem Wohnblock und schaute noch einmal auf die Silhouette der Unterwasserstadt, die wie ein leuchtendes Sternenfeld dalag und friedlich aussah. Hin und wieder kreuzten kleine Cruiserboote, ähnlich ihrem Patrouillenboot langsam das Panorama. Obwohl Itheka diese Aussicht nun schon über 25 Jahre kannte, genoß er trotzdem noch immer den idyllischen Anblick. Er begann zu grübeln. Dies war seine Heimat, seit Anbeginn. Eine andere Welt konnte er sich kaum vorstellen. Wie wohl seine richtige Urheimat aussehen würde? Er wusste es nicht genau, würde es aber vielleicht doch noch erleben, bevor seine Lebensspanne endete. Er hatte ja noch viel Zeit, mindestens 150 Jahre konnte er noch existieren. Aber nicht mit Perikles die ganze Zeit, schoss es ihm in den Kopf. Er löste sich aus den Träumereien und ging in sein Quartier. Als er in seinem Schlafkokon lag, war die Müdigkeit wie weggeblasen und er wälzte sich unruhig von einer Seite zur anderen. Nach einer halben Stunde stand er auf, duschte sich und wollte dann Annimedes besuchen.
Der alte Gelehrte wuselte immer in seinem Labor herum und arbeitete scheinbar ohne Schlaf an seinen Experimenten und Studien.
Zwischen den beiden hatte sich eine gute Freundschaft gebildet, obwohl der eigenbrötlerische Wissenschaftler als Einzelgänger bekannt war. Doch Ithekas Art war dem alten Mann angenehm und Itheka wusste immer, wann er den Mund mit seinen vielen Fragen, die ihm immer auf den Lippen brannten, zu halten hatte. Annimedes hatte ihm viele Dinge von ihren Vorfahren erzählt, die in keinem der bekannten Bücher standen. Auch die Heimatgalaxie der Götter versuchte er zu erklären. Zwar verstand Itheka nicht viel von Astronomie, technischen Einzelheiten und chemischen Abläufen, doch hatte er sich schon eine Menge an Wissen angeeignet, was ihm einen kleinen Vorsprung bei seinen gleichaltrigen Brüdern und Schwestern verschaffte. Als er nach vielen Gängen und Verbindungstunneln endlich vor den Toren des großen Labors stand, waren diese verschlossen. Ein sehr seltener Fall, dachte er. Sollte sein Freund doch wieder erwarten einmal schlafen gegangen sein, oder steckte mehr dahinter? Auf dem Rückweg begegnete er Isaak, mit dem er schon das eine oder andere Mal ziemlich verbotene aber anregende Aktionen durch gezogen hatte. Dieser wirkte sichtlich nervös und war sehr aufgeregt.
„Itheka, sei gegrüßt. Hast Du schon von dem Signal gehört?“
„Sei auch Du gegrüßt, Isaak. Von welchem Signal redest Du?“
„Der oberste Rat will es wohl noch geheim halten, aber irgendwie ist es durchgesickert. Alle Wissenschaftler und führenden Köpfe sind in heller Aufregung deswegen!“
„Wovon redest Du?“
„Itheka, denk nach, was meine ich wohl? Wahrscheinlich ein Signal, eine Botschaft auf die wir jetzt schon fast 2.000 Jahre warten, das meine ich!“
„Ist nicht wahr!“
„Doch ist es, aber noch gibt es keine offizielle Bestätigung, wir müssen uns noch in Geduld fassen bis der oberste Rat uns über die Einzelheiten unterrichtet.“
„Warum sollten sie sich gerade jetzt melden?“
„Was weiß ich? Irgendwann mussten sie doch soweit sein uns zu holen!“
Itheka dachte nach und konnte sich nun auch den Grund vorstellen, weshalb Annimedes nicht im Labor war. Er würde natürlich auch bei den namhaften Köpfen dabei sein. Er, der schon seit vielen Jahren durch Erfindungen und Verbesserungen ihr Leben in der Unterwasserkolonie angenehmer gemacht hatte. Wahrscheinlich hockten sie jetzt schon alle zusammen und versuchten das Signal zu verstärken und zu entschlüsseln. Isaak war in seiner Aufregung schon weiter gelaufen und hatte noch andere mit seiner Neuigkeit informiert. Itheka machte sich auf den Weg um ins große Atrium zu kommen. Dort wo die öffentlichen Versammlungen und Beratungen statt fanden und von wo aus man einen herrlichen Rundblick durch die breiten, transparenten Energiefenster in den Ozean hatte. Nach einer Viertelstunde erreichte er die große mit Marmorsäulen umsäumte Halle und erblickte eine Menschenmenge, die angeregt aber scheinbar noch ruhig miteinander diskutierte. In einiger Entfernung konnte er auch Perikles sehen, der vertieft mit zwei Leuten redete. Itheka war das recht, denn im Moment hatte er keine große Lust mit jemand anderen als mit Annimedes zu sprechen. Doch ob er in den nächsten Stunden den alten Mann zu Gesicht bekommen würde, war fraglich. Ein Mann des Glaubens hatte sich Gehör verschafft und war auf das kleine Podium gestiegen, dass an der Stirnseite der Halle aufragte. Beide Arme seitlich erhoben, versuchte er durch Zeichen die Menge zum Schweigen zu bringen. Als dann kaum noch Gespräche zu hören waren, erklang seine tiefe Stimme.
„Freunde, Brüder, Kinder von Priota, hört mir einen Augenblick zu. Dies ist der Tag der Freude und der Erlösung für unser Volk. Endlich nach so langer Zeit haben unsere Brüder uns gefunden und werden uns bald zu sich holen. Unser Warten hat ein Ende. Die Götter haben unser Flehen und unsere Verzweiflung endlich zur Kenntnis genommen und werden uns befreien. Glaubt mir, wenn ich Euch sage, die ultimative Verbindung ist da und wird uns in Kürze für unsere ganzen Entbehrungen entlohnen.
Viele Brüder und Schwestern mussten in der langen Zeit der Verbannung leiden und sterben. Nun ist es soweit. Unsere Opfer waren nicht umsonst.
Ich sage Euch, packt Eure Sachen zusammen und wartet mit mir auf die Ankunft der Vorderen. Die Zeit der Vollkommenheit ist nahe. Schlagt die heiligen Schriften auf und lasst uns beten!“
Der Glaubensmann fiel auf die Knie und fast alle folgten seinem Beispiel nach. Itheka ging das alles viel zu schnell. Obwohl er wie auch die anderen ein freudiges Herz über die Nachricht bekam, schwebte da noch ein dunkler Fleck des Mißtrauens und der Skepsis in ihm. Wenn es so eindeutig und klar gewesen wäre, hätte der oberste Rat doch schon längst alle zusammen gerufen und die Nachricht verkündet. Aber andererseits, wenn es wirklich stimmen sollte, dann wäre endlich der glorreichste Tag des Unterwasservolkes angebrochen. Itheka wollte, musste unbedingt mit Annimedes sprechen, nur er konnte ihm die letzten Zweifel nehmen und nur ihm traute er in allen Belangen völlig. Er verließ die Versammlung mit den betenden Brüdern und Schwestern mit dem Ziel, die heiligen Hallen des Wissens und der Belehrung aufzusuchen. Dort könnte er vielleicht auf den alten Freund stoßen. Falls nicht, wollte er noch einmal das Labor besuchen. Irgendwo musste Annimedes ja stecken. Überall in den Wohnbereichen, die er dabei durchquerte, war helle Freude ausgebrochen und die Leute tanzten und lachten, wo sie gingen und standen. Die Schwermut der vergangenen Jahre und Jahrzehnte war wie weg gewischt und das Gefühl der Isolierung wich einem neuen Zusammengehörigkeitstaumel, das auch langsam Itheka ansteckte. Je weiter er voran kam, desto breiter wurde sein Lächeln, das seit der Geschichte im Block 32 endgültig verschwunden war. Er musste plötzlich auch an Athene denken, die erst in zwei Tagen aus ihrer Kältekammer kommen sollte. Was würde sie wohl zu der freudigen Nachricht sagen? Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätten sie schon beide längst geheiratet, aber Itheka wollte noch nicht, obwohl er sie über alles liebte. Irgend etwas hatte ihn bis jetzt immer abgehalten. Sollten sie dieses alles ändernde Ereignis nicht vielleicht mit ihrer Hochzeit krönen?, dachte er.
Warum nicht, wenn sie ihn noch immer heiraten wollte, wäre er wohl nun bereit dafür. Ein neues Leben auf einem neuen Planeten, ob auf der Oberfläche oder unter Wasser war ihm schon fast egal.
Obwohl er gerne einmal die von Annimedes geschilderten Sterne mit eigenen Augen gesehen hätte. Mit leichten Schritten und guter Laune erreichte er die heiligen Hallen, die aber zu seiner Verwunderung verwaist waren. Kein Mensch war anwesend. Also ging er doch zum Labor, vielleicht hätte er nun mehr Glück als beim ersten Mal, dachte er. Die Labortore standen weit offen und nicht nur dies erschreckte ihn im ersten Moment, sondern auch die Schriftrollen und Notizen von Annimedes lagen teilweise auf dem Boden verstreut. Er bückte sich und versuchte sie behutsam aufzusammeln. Eine alte und brüchige Stimme meldete sich aus dem hinteren Labor.
„Du kannst Dir die Mühe sparen, laß den ganzen Kram dort liegen, wo er ist. Ich werde ihn nicht mehr brauchen!“
„Annimedes, mein Freund, was ist los? Normalerweise würdest Du einen Wutausbruch bekommen, wenn Deine Notizen und Aufzeichnungen auf der Erde liegen.“
„Laß mich bitte allein, ich möchte jetzt mit niemanden sprechen!“
„Aber warum, ist es nicht ein freudiger Tag für uns alle?“
„Ja sicher, geh jetzt!“
„Ich versteh nicht, warum...!“
Annimedes kam aus dem hinteren Labor gestürzt und schrie Itheka gerade zu an.
„Ich sagte, geh Junge, laß mich allein, sofort!“
Itheka wusste, dass nun jedes weitere Wort den alten Mann noch mehr aufregen würde. Also ging er mit gemischten Gefühlen und verließ den Labortrakt. Nun wollte er nicht weiter an den kleinen Feiern und freudigen Zusammenkünften teilnehmen. Seine gute Laune war mit einem Schlag weg. Er zog sich in seine Unterkunft zurück und wollte nur noch allein sein. Am Abend ging er trotzdem noch einmal zurück mit der Hoffnung, den Gelehrten in einer besseren Stimmung vorzufinden.
Er vermied auf seinem Weg anderen zu begegnen und nach kurzer Zeit stand er wieder vor den noch immer offenen Labortüren. Die privaten Sachen und einzelne Manuskripte lagen noch so auf dem Boden wie Itheka sie zuletzt gesehen hatte.
Er betrat die schummerigen Räume und seine Augen suchten den alten Mann. Dann entdeckte er ihn an einem großen Holztisch, an dem er sich eigentlich nur zum Zeichnen setzte. Ein Kerzenhalter mit sechs Kerzen diente als Lichtquelle. Er war sehr vertieft darin, etwas in ein uraltes Buch zu schreiben. Mit einer Feder und Tinte. Itheka kannte sonst niemanden, der sich noch die Mühe machte mit diesen veralteten Utensilien zu arbeiten. Als er näher kam, sah Annimedes auf und winkte ihn heran.
„Komm und setz Dich mein Sohn. Wir haben zu reden! Nimm es einem alten Mann nicht übel, das er die Fassung verlor, aber so etwas kann einen schon aus der Bahn werfen!“
„Ich versteh nicht!“
„Woher auch. Ach diese Jugend. Bevor ich Dir meine Einschätzung der Lage erzähle, wollte ich Dir noch mitteilen, das die Sache im Block 32, Dir keine Kopfschmerzen mehr bereiten muss!“
„Woher weißt Du...?“
„Ich bin vielleicht alt, meine Ohren und mein Verstand sind aber immer noch hellwach.“
„Aber ich habe niemanden davon erzählt und wir waren doch nur zu dritt, als ich den Sohn des Primaten ohrfeigte. Der andere war Solkin, doch dieser ist seit über zwei Wochen in der Kältekammer. Der Geohrfeigte wird ja wohl kaum diese Schande selbst erzählt haben, oder? Dann bleibt nur noch Perikles über, war er es?“
„Nein, aber mein junger Freund, wir leben zwar in einer recht großen Kolonie aber solche Dinge bleiben selten geheim, auch wenn man es sich wünscht. Es werden keine Repressalien auf Dich zukommen, keine Sorge. Die haben jetzt andere Probleme, das kannst Du mir glauben!“
„Was meinst Du, Annimedes?“
„Normalerweise dürfte ich Dir das überhaupt nicht erzählen, aber wir beide kennen uns jetzt schon so lange und ich finde, Du und Deine Kleine, Ihr habt das Recht, die verbliebene Zeit voll auszunutzen.


Der oberste Rat und fast alle führenden Wissenschaftler sind der Meinung, wir würden kurz vor der Abholung stehen und unser Stammvolk aus der fernen Galaxie wird uns retten. Sie treffen schon alle Vorbereitungen dafür und werden morgen früh alle Prioten darüber informieren.“
„Das ist doch herrlich, eine gute Nachricht, oder?“
Itheka bemerkte die düstere Miene auf dem Gesicht des Wissenschaftlers.
„Oder stimmt etwas nicht, keine gute Nachricht?“
Der alte Mann strich sich über den weißen, langen Bart und schaute einen Moment ins Leere, bevor er Itheka wieder ins Gesicht blickte.
„Es kann sein, dass ich mich irre, und bei allen Göttern, wäre es doch nur so, aber ich bin fast sicher, das dieses Signal von unserem Heimatplaneten kein Ortungssignal ist um uns hier besser zu finden und abzuholen...“
Er schwieg einen Moment.
„Sondern?“, fragte Itheka.
„Ich denke, es ist ein Countdown!“
„Ein was?“
„Ein Vernichtungssignal mit ablaufender Zeit.“
„Wie kommst Du darauf?“
„Die Signatur war eindeutig von unserem Muttervolk, da gibt es keine Zweifel, darüber waren sich alle von meinen Kollegen einig. Doch es war mehr ein Scannen unserer Energie und Versorgungsbatterien, sowie der Wohnquartiere.“
„Das hört sich doch gut an, sie wollten wahrscheinlich wissen, wie wir uns entwickelt haben und wie viele von uns hier leben und sie dann abholen müssen.“
„Das dachte ich zuerst auch, aber dann fiel mir auf, daß sie außergewöhnlich lange die Energietransformatoren und die Codes für die Schilde gescannt haben.“
„Ja und?“
„Meiner Meinung nach, haben die Daten ergeben, dass sie mit dem Scan ausgerechnet haben, wieviel Energie sie brauchen um unsere ganze Stadt auszulöschen.
Ein gezielter Energiestoß auf die richtige Stelle würde ausreichen um unser Schutzschild und die künstliche Sphäre zu zerstören!“
„Wahrscheinlich haben sie das hinterher vor, nachdem sie uns geholt haben. Wieviel Zeit haben wir denn noch?“
Annimedes sah zur Seite und sagte dann etwas leiser:
„Wenn ich mich nicht verrechnet habe, bleiben uns nur noch 24 Stunden übrig. In dieser Zeit ist eine komplette Evakuierung unserer Einwohner unmöglich. Außerdem gibt es keine Anzeichen dafür, dass unser Muttervolk ein Schiff auf die Reise geschickt hat. Es gibt nur Spuren von einer Termalsonde, die sich uns nähert. Selbst mit ihrer überlegenden Technologie können sie uns nicht ohne Transportschiffe, die im Orbit der Erde kreisen, hochholen. Also...?“
„Also was?“, hakte Itheka nach.
Annimedes riss die Arme in die Höhe.
„Kabumm“, sagte er.
Itheka kriegte große Augen.
„Das können die doch nicht machen, warum sollten sie so etwas tun?“
„Ich habe keine Ahnung, vielleicht sind wir den Aufwand uns zu holen nicht mehr wert. Wer weiß?“
„Und wenn Du Dich irrst?“
„Ich bin mir zu 99 Prozent sicher, glaube mir, junger Freund. Ich an Deiner Stelle würde mich sputen, die letzten Stunden mit meiner Liebsten zu verbringen. Geh jetzt und lass mich die noch nötigen Eintragungen in mein Buch machen. Ich werde es danach in einem kleinen Kokon versiegeln und versenken. Vielleicht wird es irgendwann einmal jemand finden und unsere Geschichte lesen, wenn wir schon lange nicht mehr existieren!“
Itheka sprang auf und nahm seinen alten Mentor und Freund unbeholfen in den Arm.
„Falls wir uns nicht wieder sehen sollten, danke ich Dir für alles, was Du mir beigebracht und gelehrt hast. Lebe wohl mein Freund!“
Annimedes kriegte glänzende Augen und drehte sich weg.
„Es tut mir so Leid für Dich, so Leid. Geh jetzt, beeil Dich und schau Dich nicht mehr um!“
Itheka verließ die unteren Bereiche und ging zielstrebig auf die Sektoren der Kältekammern zu. Der wachhabende Offizier hielt ihn am Arm fest und wollte die Genehmigung für das unbefugte Betreten der Eiskammern sehen. Itheka gab sie ihm in Form eines harten Aufwärtshakens. Die Boxstunden bei Barrain hatten sich doch noch bezahlt gemacht. Der Offizier verdrehte die Augen und sackte dann mit einem Grunzen zusammen. Itheka suchte versuchte verzweifelt die rund 500 Kammern nach Athene ab. Nach der achtunddreißigsten gab er keuchend auf und ging zurück zum Wachbüro. Dort begann er die Kammern mit den Namen zu vergleichen und bald darauf fand er die von Athene. Er hatte keine Ausbildung für die Geräte und Maschinen und ein Fehler könnte seine Liebste für immer von ihm reißen. So versuchte er behutsam einzelne Kammern aufzutauen, obwohl die Zeitmesser damit nicht einverstanden waren und laut heulten. Hoffentlich würde die Ablösung für den Wachposten erst viel später erscheinen, dachte er. Bei zwei Kammern funktionierte es nicht perfekt und die aufgetauten Brüder fielen, nachdem sich die gläsernen Kabinendeckel geöffnete hatten, tot heraus. Das schlechte Gewissen hielt nur kurz an, denn schließlich ging es um seine Geliebte. Beim dritten klappte es dann und nun konnte er ohne weitere Gefahr auch  Athene befreien und auftauen. Der Mann war noch benommen und hatte die Augen geschlossen. Es würde einen Moment dauern, bis er die Lage deuten konnte. Der Lebenszyklus der Prioten war um ein vielfaches länger als das der Oberflächenbewohner, doch erforderte dies auch einen regelmäßigen Tiefschlaf in den Eiskammern.
Erwartungsvoll stand er vor der Kabine als der durchsichtige Deckel aufklappte und sie die Augen öffnete.
Noch war sie von einer feinen Frostschicht bedeckt, die sich aber nach einer Minute auflöste und ihre volle Schönheit freigab.
Ihre langen blonden Haare waren noch feucht und klebten ihr am Kopf als sie langsam aus der Kapsel stieg. Leicht verwirrt mit einem Blick auf die abgebrochene Gefrierzeit fiel sie in seine Arme.
Das Sprechen ging am Anfang noch schwer und die Stimme war heiser.
„Itheka, was soll das? Warum hast Du mich aufgetaut und nicht Dr. Magnus?“ Ist etwas nicht in Ordnung, Liebster?“
„Meine Athene, wie schön Du bist. Ja, Du hast Recht, es ist wirklich etwas ganz und gar nicht in Ordnung! Komm, wir müssen weg von hier, bevor die Wache kommt!“
Bevor Athene weitere Fragen stellen konnte, z.B. über die beiden toten Prioten, die leblos in ihren Wasserpfützen lagen, nahm er sie an die Hand und führte sie aus den Eiskammern fort. Als sie einiger Zeit in einen abgeschiedenen Bereich kamen, zog Itheka sie in eine Ecke und küsste sie stürmisch. Als er nach einer Weile nachließ, wollte Athene endlich Antworten auf sein Verhalten bekommen.
„Was ist denn los? Bitte erkläre mir die vorzeitige Erweckung! Du mußt ja wirklich einen guten Grund haben.“
„Den habe ich. Es hört sich wahrscheinlich ziemlich verrückt an aber wir beide müssen, können nicht...wo soll ich nur anfangen? Wir haben heute morgen ein Signal von unserem Heimatplaneten bekommen.“
„Wirklich? Endlich, nach so langer Zeit holen sie uns?“
„Nein, eigentlich sieht es nicht so aus, mehr das Gegenteil!“
„Wie meinst Du das? Im Gegenteil! Ich verstehe nicht!“
„Wir haben nicht mehr viel Zeit und mein Plan sieht vor, daß ich mit Dir zu den äußeren Hangars schleiche und wir mit einem Boot abhauen!“
„Abhauen, aber wieso sollten wir das tun? Und wohin willst Du denn?“
Itheka fasste sie mit beiden Händen an den Schultern.
„Athene, unsere Heimat hier unten, unser Priota wird in Kürze zerstört werden. Annimedes gibt uns noch ungefähr 20 Stunden Zeit, bevor hier alles ausgelöscht ist! Verstehst Du?“
„Aber wodurch zerstört, unsere Brüder werden uns doch retten, oder nicht?“
„Nein, gerade die werden hier alles in Schutt und Asche legen. Nichts mehr wird übrig bleiben, damit die Oberflächenbewohner keine Spur mehr von uns finden.“
„Das hört sich doch unglaublich an, das kann ich Dir nicht abnehmen!“
„Ich konnte es zuerst auch nicht glauben und die anderen sind sich über ihre Lage nicht bewußt. Sie meinen alle, wir werden bald geholt. Bis jetzt hat sich Annimedes in der Vergangenheit noch nie geirrt und bei solch einer wichtigen Sache habe ich keinen Zweifel über die Richtigkeit seiner Worte.“
„Das heißt, er allein ist dieser Ansicht und die anderen glauben nicht daran?“
„So ist es, aber wenn sie ihren Fehler bemerken, wird es zu spät sein! Aber nicht für uns, wir beide haben noch Zeit von hier zu fliehen!“
„Selbst wenn es stimmen sollte, mein Vater und meine Schwester Suane, was soll mit ihnen geschehen? Wir können sie doch nicht dem Tode überlassen?“
„Glaube mir, ich hasse mich auch dafür, aber es gibt keine andere Möglichkeit. Wenn wir noch andere einweihen, werden sie uns davon abhalten, oder noch schlimmer, einsperren, und dann haben wir überhaupt keine Chance mehr.“
„Einfach feige fliehen und die anderen ihrem Schicksal überlassen?“
„Ich sehe keinen anderen Weg! Willst Du leben und mit mir einen Neuanfang wagen?“
Athene schaute verwirrt und ängstlich. Tränen flossen ihr über die Wangen.
„Wie kann ich meine kleine Schwester in den sicheren Tod gehen lassen, wie kannst Du das verlangen?“
„Liebste, Du mußt Dich nun entscheiden, wie haben nicht mehr viel Zeit und auch dann, müssen wir viel Glück haben, bis in die Sperrzone ohne Erlaubnis zu kommen!“
Itheka streichelte ihr sanft über den Kopf und küsste sie auf die Stirn.
„Laß los, Athene. Wir müssen jetzt nur noch an uns denken. Bitte komm mit mir, denn ohne Dich, werde ich auch hier bleiben und dann sterben wir beide, willst Du das?“
„Die lassen uns doch nie mit einem Boot abhauen, keine Chance!“
„Doch, vertraue mir. Ich werde schon einen Weg finden, komm.“
Itheka nahm ihre Hand und anfangs noch zögerlich, dann schneller folgte sie ihm. Er führt sie durch dunkle Gänge und Tunnel, die sie noch nie gesehen hatte. Bereiche, von denen sie gar nicht wusste, dass sie existierten. Als sie einmal kurz anhielten um einige Männer, die sich laut unterhielten und dann langsam weiter gingen, ungesehen passieren zu können, zuckte sie an Ithekas Hand, die sie noch immer fest hielt.
„Ich kann das nicht, bitte verzeih mir, aber das Ganze geht mir zu schnell und meine Sinne sind verwirrt. Mein Herz gehört Dir und möchte weiter gehen, doch mein Verstand kann dies alles nicht begreifen und hält mich zurück.“
„Athene, bitte, zögere jetzt nicht, wir haben nur wenig Zeit!“
Sie riß sich los und begann zügig eine Verbindungsleiter empor zu klettern. Bevor Itheka reagieren konnte, sprangen die Bewegungssensoren der engen Röhre an und piepsten in einem ohrenbetäubenden Ton. Sie waren entdeckt. Itheka versuchte sie noch am Fuß zu fassen, doch sie war zu flink und öffnete ein Gitter und stieg aus der Röhre. Er kletterte hinterher und dann sah er wo sie heraus kamen. Es war eine kleinere Kammer mit Ersatzteilen für Maschinen. Sie stand, immer noch von den Nachwirkungen der Kältekammer zitternd inmitten des Raumes und Itheka wollte sie gerade wieder dazu bewegen, erneut hinab zu steigen um weiter zu gehen, als die eiserne Tür aufgerissen wurde und zwei Leute von der „Sicherheit und Frieden“ Truppe herein stürmten. Sie hatten beide jeweils einen Neutralisator in der Hand, mit dem sie bei Berührung einen Pottwal hätten bewegungslos machen können. Widerstand war zwecklos. Itheka fügte sich und wurde mit Athene abgeführt. Es folgte eine strenge Befragung und dann wurden sie getrennt in Wartezellen gesperrt.
Die Beurteilung und wahrscheinliche Bestrafung, wie auch immer diese ausfallen würde, sollte zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen.
Verzweifelt suchte Itheka einen Ausweg aus dem Dilemmer, doch ohne Hilfe würden sie nie aus den perfekt gesicherten Zellen fliehen. Die Stunden vergingen und der Zeitmesser im Büro des Wachhabenden Offiziers, den Itheka gerade so erkennen konnte, zeigte noch knapp 12 Stunden bis zum endgültigen Desaster an.
Wer sollte ihnen jetzt noch helfen? Niemand wusste wo sie waren. Deprimiert über die fehlgeschlagene Flucht und mit der Aussicht bald zu sterben, setzte er sich in eine Ecke der Zelle und legte den Kopf auf die heran gezogenen Knie, die er mit den Armen umschlang. Er döste vor sich hin, konnte aber nicht schlafen, dazu war er innerlich noch zu aufgewühlt. Nach weiteren Stunden löste er sich aus der Lethargie und kletterte wieder auf die Pritsche um besser nach dem Zeitmesser schauen zu können. Wenn Annimedes Recht hatte, würden ihnen nur noch vier Stunden bleiben, bevor sich alles in Luft auflöste. Jetzt wäre es eh kaum noch zu schaffen gewesen, rechtzeitig und ungesehen in die Hangars zu gelangen, selbst wenn sie sofort los laufen würden. Verärgert schlug er auf die transparente Zellentür, die die Energie seines Schlages lautlos schluckte und nicht weiter beeindruckt war. Da hörte er ein dumpfes Geräusch, fast wie ein entfernter Knall. Die Verbindungstür der Vorzelle ging auf und ...